Die Bedeutung des schulischen Religionsunterrichts
Seit August 2010 gibt es in der Primarschule Kreuzlingen einen islamischen Religionsunterricht für muslimische Kinder. Ein Erfolgsmodell, das zeigt, welchen wichtigen Beitrag die Religionsgemeinschaften in Bezug auf die religiöse Bildung in der Schule leisten und ein Grund, bei den verschiedenen Vertreter*innen der Fachstellen nachzufragen, welchen Stellenwert die Religionsvermittlung am Lernort Schule hat.
Das grosse Interesse am islamischen Religionsunterricht in der Primarschule Kreuzlingen ist seit der Einführung vor elf Jahren nicht abgebrochen. Im laufenden Schuljahr nehmen etwa 86 von insgesamt 112 muslimischen Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 12 Jahren teil. Sie sind mehrheitlich albanischer, türkischer und bosnischer, aber auch arabischer und pakistanischer Nationalität. «Ein Schnitt von ca. 80%», sagt Imam Rehan Neziri, nicht ohne Stolz. Seit 2010 unterrichtet er in den Schulhäusern Seetal und Wehrli in Kreuzlingen die Viert-, Fünft- und Sechstklässler. Der Unterricht ist auf Hochdeutsch und basiert auf in Bayern entwickelten Lehrplänen sowie dem deutschen Lehrmittel Saphir. Neziri erteilt sechs Lektionen pro Woche, die in acht Hauptthemenbereiche unterteilt sind. Die Schüler*innen lernen nicht nur den Islam und seine Geschichte, die Glaubenslehre und die Propheten kennen, sondern erfahren auch Wichtiges über andere Religionen und das religiöse Zusammenleben in der Schweiz. «Ich versuche, neben den konzipierten Zielen, islamische Werte zu vermitteln, die sich an der Verfassung, den Sitten und der hiesigen Kultur orientieren. Unterschiede sprechen wir auch an, aber wir betonen vor allem die Gemeinsamkeiten».
Breite Abstützung
Die Idee hinter dem vormaligen Pilotprojekt, das damals auf drei Jahre ausgelegt war, ging aus dem Runden Tisch der Religionen hervor – einem Diskussionsforum für die verschiedenen Religionsgruppen in Kreuzlingen. Hier werden Impulse und Anregungen aufgenommen und in Veranstaltungen oder Projekte umgesetzt. «Wir haben früh gemerkt, dass unseren muslimischen Kindern ein schulischer Religionsunterricht fehlt. Der Islamunterricht, der in den Moscheen angeboten wird, hat einen anderen Charakter und ist eher praxisorientiert», erklärt Rehan Neziri. Weiter führt er aus: «Die Schule bietet die Möglichkeit des sozialen Interagierens. Die muslimischen Kinder sollten in ihrer Identitätsfindung unterstützt werden und sich gleichberechtigt fühlen mit den christlichen Kindern». Aus der Teilnahme an einem Workshop im Jahr 2007 an der Pädagogischen Hochschule Thurgau zu ebendiesem Thema ging dann das Projekt islamischer Religionsunterricht an der Primarschule hervor. Als Trägerverein wurde 2010 der Verein für Islam-Unterricht in Kreuzlingen (VIUK) gegründet, der breit von den Landeskirchen, der albanischen und türkischen Moschee sowie der Stadt und der Schulgemeinde abgestützt ist.
Vorurteile abbauen
Am Anfang seien nicht alle begeistert gewesen von dem Projekt, weil es diffuse Ängste weckte. «Es gab Versuche, den Unterricht mit Volksinitiativen zu verhindern, die aber auf allen Ebenen scheiterten», berichtet der Imam. Mittlerweile werde die integrative Wirkung des Unterrichts hochgeschätzt, besonders die Eltern seien sehr zufrieden. «Ihre Kinder lernen etwas über ihre religiöse Kultur und Vorurteile sowie Stereotypen können so abgebaut werden», erklärt der Theologe und Religionssoziologe. Rehan Neziri sieht sich deshalb auch als Vermittler zwischen Schule, Kinder und Eltern. «Ein Vater wollte beispielsweise seine Tochter nicht bei einem Fasnachtsanlass mitmachen lassen, weil er das als christliches Brauchtum wahrnahm. Ich habe ihm erklärt, dass das Fest heute vor allem traditionell verankert und ein kultureller Teil der Gesellschaft ist. Daraufhin durfte das Mädchen teilnehmen», so der gebürtige Mazedonier, der nun schon seit fast zwanzig Jahren der albanisch-islamischen Gemeinschaft Kreuzlingen als Imam vorsteht. Nach wie vor ist Rehan Neziri die einzige Lehrperson in Kreuzlingen, die den Religionsunterricht anbietet, weshalb er sich mehr Nachwuchs auf der Ausbildungsseite wünscht. Doch das Problem sei, dass es zu wenig Arbeitsstellen gebe und deshalb viele vor einer Weiterbildung zurückschreckten. Dem Imam ist deshalb wichtig, dass auch andere Schulgemeinden in der Schweiz ein solches Angebot prüfen. «Derzeit wird nur in Kreuzlingen, Sulgen und im luzernischen Ebikon islamischer Religionsunterricht in öffentlichen Schulen angeboten. Der Bedarf ist aber viel grösser. Unser Unterricht könnte als Modell dienen, vor allem für Städte, in denen der Anteil muslimischer Schüler*innen hoch ist», sagt er.
Wichtige Kompetenzen
Das sieht auch Judith Borer so, die als Dozentin der Pädagogischen Hochschule Thurgauden Unterricht in Kreuzlingen seit Beginn begleitet und darüber jährlich einen Bericht für das Schulpräsidium erstellt. «Das Projekt ist ein Erfolg, der auf verschiedenen Faktoren beruht. Die grosse Nach - frage zeigt, dass es von Seiten der Familien eindeutig einen Bedarf nach dieser Art von Unterricht gibt», sagt sie. Weil sich vor allem in der Volksschule ein wichtiger Teil des Schulstoffs mit der Vermittlung anderer Religionen befasse, um Phänomene richtig einordnen zu können und auch das eigene Brauchtum schärfer in den Blick zu nehmen, bereichere der islamische Unterricht somit auch den konfessionellen, der von den Landeskirchen erteilt wird und als Fach in den Schulen gut etabliert sei, so die Leiterin der Fachstelle Religion und Schule des Kantons Thurgau. Zusammen mit dem konfessionslosen Bereich Ethik, Religionen und Gemeinschaft (ERG), der an den kantonalen Schulen in drei Zyklen unterrichtet wird, sollen so Schüler*innen von der Primar- bis zur Sekundarschule wichtige Kompetenzen für das Leben mit verschiedenen Kulturen, Weltanschauungen und Werteeinstellungen entwickeln. Wobei besonders die Perspektiven Ethik, Religionen und Gemeinschaft versuchen, der Komplexität moderner Welterfahrung Rechnung zu tragen, indem sie den Schüler*innen verstärkt helfen, gewisse Zusammenhänge der gesellschaftlichen Situation zu verstehen.
Teil der ganzheitlichen Bildung
«Es gibt ein historisches Interesse daran, wo wir herkommen und wie etwas entstanden ist. Hierbei hat die Religion eine prägende Rolle gespielt. Religiöses Wissen hilft uns also dabei, uns in unserem Alltag bestimmte Dinge zu erschliessen», erklärt Daniel Ritter, Leiter der katholischen Fachstelle Religionspädagogik (REP) auf die Frage, warum es wichtig sei, religiöse Grundkompetenzen im Schulunterricht zu vermitteln. Auch aus einem religionskulturellen Aspekt heraus sei eine Einordnung und ein religiöses Verständnis wichtig für unser Zusammenleben. «Religion hat aber auch sehr viel mit Werten und Werterhaltung zu tun. Im Religionsunterricht geht es stark darum, für was wir uns in unserem Leben überhaupt einsetzen. Auf unserer existenziellen Suche nach dem Sinn des Lebens hilft uns die Religion, Antworten zu finden», so Daniel Ritter. Die Kirchen würden den Religionsunterricht von Schüler*innen als Teil einer ganzheitlichen Bildung sehen. Gerade weil diese «alle Dimensionen in uns ansprechen soll», sei es so wichtig, dass Religion im schulischen Kontext eine Rolle spiele. «Wir sind über die Zeit hinaus, in der es klare Abgrenzungen gab. Religionen beziehen sich aufeinander, es finden Durchmischungen statt. Heute praktizieren viele Christen Zen oder Yoga. Scharfe Grenzen gibt es nicht mehr», so der REP-Fachstellenleiter.
Alle Verantwortung übernehmen
Trotzdem stand vor allem der konfessionelle Religionsunterricht im Thurgau letztes Jahr im Zuge der Umsetzung des Lehrplans 21 in der Kritik. Die Einführung des ERG wurde von sieben Thurgauer Kantonsräten nicht als Erweiterung dieses Unterrichts gesehen, sondern als Bedrohung desselbigen. Es hiess, Schüler*innen hätten zu wenig Kenntnisse über die Bibel, weil diese Themen nicht mehr genügend umgesetzt würden. «Letztendlich ist das Handeln entscheidender als das Wissen. Nur wiederzugeben, was man einmal gelernt hat, bringt nicht viel. Wissen hat stark damit zu tun, Verbindungen zu schaffen und Strategien zu entwickeln, die uns individuell weiterhelfen », meint Daniel Ritter. In der Diskussion um die Ausgestaltung des ökumenischen Lehrplans, der am 1. August dieses Jahres in Kraft treten soll (forumKirche 15/20), habe man sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, welche biblische Geschichten Schüler*innen kennen sollten. Doch Daniel Ritter glaubt nicht, dass es hilfreich sei, wenn sie den «ganzen Mose-Zyklus nach - erzählen können». Relevant sei vielmehr, Schüler*innen aufzuzeigen, dass die Geschichten in der Bibel über Menschen mit Gotteserfahrungen auch mit ihnen selbst zu tun hätten. «Sie sollen sich im besten Fall darin wiederfinden. Es muss uns gelingen, sie darin zu unterstützen.» Daniel Ritter ist überzeugt davon, dass über den Lernort Schule hinaus noch ergänzende Gefässe notwendig sind, um ausreichend Kompetenzen im Bereich Religion und Ethik zu vermitteln. Ob in den Pfarreien, Familien oder der Öffentlichkeit. «Wichtig ist, dass alle eine gewisse Verantwortung in Bezug auf die religiöse Bildung von Kindern übernehmen und sich überlegen, was dazu beizutragen ist».
Sarah Stutte, forumKirche, 13.4.21